Humankind: A Hopeful History
Auf Rutger Bregman bin ich zum ersten Mal durch seinen legendären Auftritt in Davos aufmerksam geworden, und mit dem (nicht-ausgestrahlten) Interview bei Fascho-Steigbügelhalter Tucker Carlson hat er sich endgültig einen Platz in meinem Herz gesichert. Davos war Anfang 2019, und schon damals habe ich viel Übereinstimmung zwischen meinem Blick auf die Welt und seinen Gedanken gefunden. Steuern für (Super-)reiche um Ungleichheit anzugehen, bedingungsloses Grundeinkommen um der Tatsache entgegenzutreten, dass “Vollbeschäftigung” im konservativen Sinne nie wieder ein realistisches Ziel werden kann (und vor allem auch nicht sollte).
Sein bisher erfolgreichstes Buch, Utopia for Realists, habe ich nicht gelesen, da ich über Vorträge und Interviews schon so viel dazu gehört hatte, dass ich die Zeit nicht aufwenden wollte. Umso gespannter war ich auf das neue Buch Humankind und habe es recht bald nach Erscheinen gelesen. Ich denke nicht, dass ich dieses Jahr noch ein Buch finde, das ich eindringlicher weiterempfehlen möchte.
Die Botschaft ist einfach zusammengefasst: Die weitverbreitete Ansicht, dass Menschen grundsätzlich egoistisch und zum maximalen eigenen Nutzen handeln, ist falsch. Das Gegenteil ist der Fall, wir sind extrem sozial.
Ich betone schon lange, dass man stets den Blick auf die systemischen Hintergründe priorisieren muss, statt sich an einzelnen Auswirkungen davon aufzureiben. Gestern waren in Berlin über 10.000 Menschen auf der Straße, um gegen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Auch mich lässt das verzweifeln, auch mir fällt es bei vielen Nachrichten heutzutage schwer, nicht den Glauben an die Menschheit zu verlieren. Aber so betroffen es mich macht, wenn Impfgegner Seite an Seite mit Nazis durch die Hauptstadt marschieren: Es steht nicht im Widerspruch zur obigen Aussage. Denn die allermeisten Menschen sind dort, weil sie sozial sind, nicht weil sie egoistisch sind. Ihr kennt sicher alle die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der Ohnmacht – Gefühle, die sich bei diesem Thema schnell breitmachen. Das Problem: So fühlen sich “die Anderen” auch. Das klingt jetzt nach “Sorgen und Ängste ernst nehmen”, aber mir geht es nur um das Verständnis der Motivation. Das heißt nicht, dass man deshalb sein Handeln anpassen muss und die Wissenschaft über Bord wirft. Und Nazis aufs Maul, sowieso. Mir hilft es aber, nicht noch mehr daran zu zerbrechen, wenn ich mir vor Augen halte, dass das keine Menschen sind, die absichtlich bösartig handeln, sondern ihrer sozialen Natur folgen. Sie wollen – leider vollkommen fehlgeleitet – das Beste für ihre Mitmenschen erreichen. Die überzeugteren Prediger dort denken vermutlich wirklich, dass sie uns dumme Schafe retten müssen. Die weniger überzeugten Mitläufer sind dort, weil sie die Prediger nicht im Stich lassen wollen. Das sind beides sehr soziale und nicht egoistische Akte.
Klar, es gibt immer Ausnahmen. Psychopathen, die wirklich nur für sich selbst agieren. Und diese haben es genau wegen unserer guten Natur (zu) leicht, sich durchzusetzen – vor allem heutzutage, wo die Toleranz der Intoleranten ungeahnte Ausmaße erreicht hat. Bestes Beispiel: Trump, der immer noch nicht entmachtet wurde und im Knast sitzt, weil alle (Reps und Dems gleichermaßen) außer ihm und seinen kriminellen Mittätern immer noch zu beschäftigt damit sind, “Normen” zu bewahren – während er seit Jahren außerhalb der Normen agiert. Bregman liefert folgendes Beispiel aus einer Zeit, die sich gerade in vielen Aspekten wiederholt: Nazis, die nach dem zweiten Weltkrieg interviewed wurden, haben mehrheitlich gesagt, dass ihnen die Ideologie egal war, es ging nur um die Kameraden. Wer lässt schon gern seine Kollegen im Stich? Wer hier hat nicht schonmal gute Miene zu bösem Spiel gemacht, um im sozialen Umfeld nicht anzuecken? Auch das bitte nicht als Relativierung missverstehen – das entschuldigt nichts, und ändert nichts an meiner Überzeugung, dass Deutschland nie ordentlich entnazifiziert wurde und wir diese Suppe heute noch auslöffeln. Aber es ist eine Erklärung, und zwar eine wesentlich bessere als “Naja, die Nazis waren halt alle Monster, sowas würde heute nicht mehr passieren”. Wie konnte es zum Holocaust kommen, wenn doch “alle” Menschen – so die These von Bregman – grundsätzlich gut sind? Wir sind manchmal “zu gut”.
Ähnlich lassen sich auch das berüchtigte Stanford-Prison-Experiment und die Studie von Stanley Milgram neu beleuchten: Beide werden bis heute oft als Beweis dafür zitiert, dass Menschen zu schlimmen, grausamen Handlungen bereit sind und in jedem von uns ein Monster schlummert. Bregman wirft einen genaueren Blick darauf, und schildert Aspekte, die in den Jahren nach den Studien schon erkannt wurden, aber nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit in den Medien bekommen haben. Beide Studien zeigen vielmehr auf, dass man erheblichen manipulativen Aufwand betreiben muss, um unsere gute Natur zu überschreiben und uns zu Grausamkeit zu drangsalieren. Das ist übrigens ein Grund dafür, warum Sprache so wichtig ist. Wenn jahrzehntelang über die dummen Behindis und die scheiß Schwuchteln geredet wird, sind diese irgendwann gedanklich bereits so entmenschlicht, dass ein entscheidender Schritt dieses manipulativen Aufwands erledigt ist.
Das Buch liefert noch viele, viele weitere spannende Geschichten – der Ursprung der unterlassenen Hilfeleistung, progressive Gefängnismodelle in Norwegen, gestrandete Kinder auf einer einsamen Insel.1 Es liest sich schnell und leicht, und es ist weniger anekdotisch als ich erwartet hatte. Unabhängig davon – ich maße mir kein Urteil darüber an, wie “wahr” Bregmans These ist. Aber ich bin überzeugt davon, dass die Welt besser wird, wenn sich mehr Menschen damit auseinandersetzen.
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Die sich überraschenderweise nicht zerfleischt, sondern als Gegenmodell zu Lord Of The Flies gemeinsam überlebt haben und enge Freunde geworden und geblieben sind. Die Story hat mittlerweile so viel Aufsehen erregt, dass nach einer heißen Jagd um die Filmrechte eine Hollywood-Version folgen wird. ↩︎