Autonom

Aus der aktuellen Pressemittelung Nr. 6/2020 des Kraftfahrt-Bundesamts:

Um über eine Millionen Fahrzeuge erhöhte sich der Bestand im Vergleich zum Vorjahresstichtag und wies am 1. Januar 2020 rund 65,8 Millionen in Deutschland zugelassene Fahrzeuge auf (+1,6 %). […] Die höchste Steigerungsrate in Bezug auf die Anzahl der zugelassenen Pkw wies wie schon am 1. Januar 2019 das Segment der SUVs mit +19,8 Prozent aus, gefolgt von den Wohnmobilen mit +10,6 Prozent und den Geländewagen mit +8,1 Prozent.

Das kann man sich nun mittels Bevölkerungswachstum schönreden, aber letztlich tut sich trotz FFF, Plastiktüten-Strafpreis und Strohhalm-Ächtung noch nicht viel. Niemand ist bereit, oder besser gesagt dazu in der Lage, etwas am Status Quo zu verändern. Aktuell zeigt uns Corona auf, dass auch undenkbare Maßnahmen sehr schnell realisierbar sind, aber Verkaufs-, Produktions- oder Zulassungssperren für Neufahrzeuge, weitreichende Fahrverbote, ein generelles Tempo-Limit auf den Autobahnen, oder zumindest strikte Tempo-Regelungen in Städten sind am Horizont der meisten Menschen weiterhin nicht zu sehen. Die Toten durch die Klimakatastrophe sind zu abstrakt, die Verkehrstoten zu normalisiert.

Ich hatte wohl Glück im Unglück, dass sich meine Mutter als ich 14 oder 15 Jahre alt war, einen Erziehungs-Fauxpas geleistet hat. Damals hat sie mir recht unverblümt und ohne erkenntlichen Grund gesagt, sie glaube nicht, dass ich ein guter Autofahrer sein werde. Sie habe das so im Gefühl. Das hat sich bei mir eingebrannt, und ich weiß bis heute nicht, ob mein Leben sich seitdem zufällig so entwickelt hat, dass ich gar kein Auto brauche, oder ob mein Unterbewusstsein das so regelt, damit ich mich dieser Vorverurteilung nie ernsthaft stellen muss. Den Lappen habe ich zwar zu meiner Münchner Studienzeit während der vorlesungsfreien Zeit einst auf knackige vier Wochen in meiner Heimatstadt erledigt, aber seitdem bin ich keine 100 km gefahren. Darum kann ich heute aus meinem Elfenbeinturm heraus sehr bequem dem Autohass frönen.

Und ich hasse Autos mittlerweile wirklich sehr. Autofahrer auch – denn selbst Menschen, die ich schätze und liebe, werden mir hinter dem Steuer fremd. Das Handy gehört während der Fahrt zum Alltag als gäbe es kein Bußgeld. Jeden Tag ein Todesfall durch Ablenkung am Steuer, mehr als durch Trunkenheit. Egal, mir passiert das nicht. Es wird falschgeparkt, aufgeblinkt, gehupt, Diesel-Einfahrverbote werden ignoriert, Tempolimit gibt es sowieso nicht, man schneidet, schimpft und quietscht mit den Reifen. Im Rausch der “persönlichen Freiheit” des eigenen Autos merkt man nicht, dass man sich am laufenden Band so verhält, wie man es – aus dem eigenen faradayschen Käfig heraus – Tag um Tag den Mitmenschen vorhält, die im selben Hamsterrad gefangen sind. Es ist nicht so, dass ich dafür kein Verständnis hätte – mein Rocket League Team weiß nur zu gut, was für eine immense Arschgeige auch in mir schlummert. Trotzdem beeindruckt mich die Selbstgerechtigkeit und Reflexionsunfähigkeit des gemeinen Autofahrers beinahe jeden Tag aufs Neue. StVO § 1 ist eine Farce.

Daran liegt es auch, dass immer wenn mir ein interessanter Artikel, Tweet, Podcast zum Thema unterkommt, ich mir diesen mehrere Tage (okay, eher Wochen) für einen Blogpost vormerke, dann aber letztlich irgendwann entnervt wieder verwerfe. Das Thema kommt mir mittlerweile zu groß vor, und ich könnte (“müsste”) so viel dazu schreiben, dass ich schon im Vorfeld aufgebe. So viele Absätze, die ich in Gedanken – oft beim Laufen, denn dabei begegnen einem immer die allertollsten Verkehrsteilnehmer – halb ausformuliert und dann doch nie getippt habe.


Heute bin ich über diesen Schatten gesprungen, weil mir in kurzer Zeit gleich zwei teilenswerte Links untergekommen sind. Zum einen gibt es bei Over-View unter dem Titel Moving Away From ‘Peak Car’ ein paar spektakuläre Luftaufnahmen zu sehen, auch wenn ich ihre Einschätzung nicht teile, dass wir schon am Höhepunkt der Auto-Auswüchse angelangt sind.

Zum anderen hat 99% Invisible mit #388: Missing the Bus mal wieder eine besonders gute Episode im Podcast-Feed gehabt. Verkehrsexperte Steven Higashide erklärt darin, welchen Stellenwert der altbekannte und simple Bus als Bestandteil der Verkehrswende einnehmen kann, und zeigt damit auch auf, wie absurd Hyperloop und ähnliche Fantasien im Vergleich sind. Ich werde nun nicht die ganze Folge nacherzählen; es geht darum, welche offensichtlichen und auch nicht so offensichtlichen Verbesserungen im Busbetrieb dringend notwendig sind, wie ÖPNV und Armut zusammenhängen, warum die meisten “modernen” “Lösungen” in diesem Bereich klassistisch sind, warum Kontrolle nicht viel mit Sicherheit zu tun haben muss, und vieles mehr – die halbe Stunde lohnt sich, versprochen.


Natürlich ist der Elfenbeinturm, aus dem ich herablassend auf meine benzinbetriebenen Mitmenschen schimpfe, alles andere als stabil gebaut. Auch ich sitze ganz regelmäßig in Autos: Auf dem Arbeitsweg nehmen mich oft Kollegen mit, die ohnehin bei mir vorbeifahren. Mit diesen Kaspern herumzualbern macht natürlich mehr Spaß als im Bus zu sitzen. Spätabends nach dem Squash-Training nach Hause gefahren zu werden ist bequemer als auf die stündlich verkehrenden Busse zu warten. Ob nur in die Therme eine Stadt weiter, oder gleich ein Road-Trip zur Roadshow in Karlsruhe, ich lasse mich immer wieder durch die Gegend kutschieren. Und trotzdem wünsche ich mir wenig sehnlicher als ein Ende des ungezügelten motorisierten Individualverkehrs. Denn die Welt würde für uns alle besser, auch wenn es vielleicht ein bisschen weh tun wird.

Meiner Erfahrung nach fehlt es den allermeisten Menschen, und das geht weit über dieses konkrete Thema hinaus, an Fantasie und Hoffnung. “Das geht doch nicht” heißt es immer. Auf dem Land sei das nicht möglich. Die alten Leute müssen ja irgendwie zum Arzt kommen. Und die Kinder in die Kita. Und überhaupt, pünktlich zur Arbeit muss ich auch kommen.
Natürlich kann jemand nicht von heute auf morgen das Auto abschaffen, wenn sie 30 km Arbeitsweg hat und pünktlich um 7 Uhr einstempeln muss. Aber warum schaffen es die Menschen nicht mehr, sich eine andere, bessere Welt vorzustellen? Warum zwingen wir Leute, um 7 Uhr einzustempeln? Oder überhaupt in ein Büro zu kommen, in dem dann alle nur am Schreibtisch vor dem Rechner sitzen, am Besten mit Kopfhörern um sich trotz open floor plan konzentrieren zu können? Wenn man mal einen Schritt zurück macht und sich anschaut, aufgrund welcher Zwänge das Auto als unverzichtbar empfunden wird – sind diese Zwänge denn so sinnvoll?

Eine Gesellschaft ohne diese Zwänge wäre doch viel lebenswerter. Eine Welt, in der wir akzeptieren und anerkennen, dass der aktuelle Weg eine Einbahnstraße ins Verderben ist, und wir nicht alles darauf ausrichten dürfen, dass jede Person ein Auto besitzt. Eine Welt, in der es einen nicht den Job kosten kann, wenn das eigene Auto nicht mehr anspringt. Wo man kein privilegierter ITler sein muss, um auch ohne Pandemie seinen Büro-Job jederzeit von zu Hause machen zu dürfen. Man stelle sich nur mal die gegenteilige Situation vor – ÖPNV, Fahrrad, Home Office, grüne Innenstädte sind der Status Quo, und nun kommt Henry Ford und sagt: Passt auf, in Zukunft hat jeder ein eigenes Auto. Dann muss am Wochenende keiner mehr Stunden auf den Bus warten, wenn er zum Baden fahren will, aber dafür gibt es jährlich 5000 Verkehrstote zusätzlich, fünf Prozent des CO2-Ausstosses werden dadurch entstehen, Städte werden primär zu Parkplätzen, Kostenpunkt sind mehrere Hundert Euro im Monat, pro Jahr verbringt ihr eine komplette Arbeitswoche Lebenszeit im Stau und ihr vergiftet euch systematisch selbst. Immerhin, dafür sichert ihr damit wertvolle Jobs! Wer würde das ernsthaft begrüßen? Diese Dinge müssten es sein, worauf Leuten als erster Gedanke “Das geht doch nicht” kommt.

Ich wünsche mir radikal weniger Autos in der Welt, und mir ist sehr bewusst, dass das generell eine radikal andere Welt bedeutet. Eine radikal bessere, die uns aus der aktuellen Situation heraus unerreichbar scheint. Aber ich glaube nicht, dass wir in einer Sackgasse sind, oder aus dieser nicht mehr herauskommen können. Es geht vielleicht langsamer voran als ich es mir wünsche, aber ich werde weiterhin versuchen, Autonarr um Autonarr mit meiner Fantasie und Hoffnung zu infizieren, denn im Grunde wollen wir alle eine bessere Welt. Misantrophie ist so 90er!